Damir Skenderovic und Christina Späti, die an der Universität Freiburg zur schweizerischen Zeitgeschichte forschen, haben im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz» (NFP 56) den Wandel der Sprachenpolitik seit den 1960er Jahren auf Bundesebene sowie in ausgewählten Kantonen (GE, ZH, BS, FR, GR) und Städten (Freiburg, Biel, Zürich) untersucht. Als Quellen dienten ihnen hauptsächlich die Protokolle der parlamentarischen Debatten, die sprachenpolitische Vorstösse, Positionen und Kontroversen dokumentieren.
Von den 1960er bis Mitte der 1990er Jahre stand in der Sprachenpolitik die Gleichberechtigung der Sprachgruppen in der Bundesverwaltung sowie – besonders ab den 1980er Jahren – die «Verständigung» im Vordergrund. Während die SP Vorstösse zum Schutz der Minderheitensprachen lancierte, hoben FDP und CVP den nationalen Zusammenhalt hervor und diskutierten darüber, wie der Austausch und das gegenseitige Verständnis zwischen den Sprachgruppen zu verbessern sei. In der Migrationspolitik wurde die Sprache selten thematisiert. Zwei Argumentationslinien dominierten die parlamentarischen Voten: Eine betonte die Vielfalt des «Mehrsprachenstaats», die für die Integration der Migranten ein Vorteil sei. Die andere knüpfte an den Diskurs der «Überfremdung» an und problematisierte die Anwesenheit Anderssprachiger.
Sprache als ökonomische Ressource unterschätzt
Auf eine wichtige Zäsur stiessen die beiden Historiker in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre: Erstens fand im Zug der Globalisierung das Englische Eingang in die traditionell den Landessprachen vorbehaltene offizielle Sprachenpolitik. Dabei stand dessen kommunikative Funktion im Vordergrund. Namentlich die FDP warb mit wirtschaftlichen Argumenten für das Frühenglische, das die Berufsaussichten der Kinder verbessere.
Zweitens erhielt Sprache in der Migrationspolitik einen herausragenden Stellenwert. Nach der CVP erklärten sie auch die anderen Parteien zum «Schlüssel zur Integration». Im Unterschied zu anderen Ländern würden die Sprachkenntnisse von Migranten auch heute nicht als ökonomische Ressource betrachtet, sagt Späti. In Kanada würden die Migrationssprachen als wirtschaftliches Investitionspotenzial gesehen, z.B. für Kundenkontakte. – Zwei unterschiedliche Vorstellungen von Sprache stachen in den Debatten hervor: zum einen wurde sie als Kommunikationsmittel gesehen, zum anderen eng an eine identitätsstiftende, Zugehörigkeitsgefühl vermittelnde Kultur geknüpft.
Kulturalisierung von Sprache
Ab den späten 1990er Jahren geriet die Förderung der Erstsprache der Migranten – die Kurse in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) – unter Druck. «Wie die Parlamentsdebatten zeigen», sagt Skenderovic, «hängt dies mit der zunehmenden Kulturalisierung von Sprache zusammen. Sie hat dazu geführt, dass Anderssprachigkeit als ein Problem erscheint, während Kenntnisse der Landessprache als entscheidender Integrationsfaktor erachtet werden.» Damit korrespondiere die Vorstellung, eine Gemeinschaft müsse kulturell und damit auch sprachlich homogen sein.
Heute finde in der Sprachenpolitik eine Revitalisierung des Assimilationsprinzips statt, sagt der Historiker. Während man früher von den Migranten erst beim ordentlichen Einbürgerungsverfahren Sprachkenntnisse verlangt habe, würden sie heute bereits bei der Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung nach einem Jahr erwartet. Die beiden Historiker stellen fest, dass sich in diesem integrationspolitischen Bereich die Wirkung der SVP- Vorstösse zeige.
Die offizielle Sprachenpolitik ausweiten
Alle grossen Parteien akzeptierten auf nationaler Ebene das Prinzip der Mehrsprachigkeit, stellten hingegen die auf lokaler und regionaler Ebene angestrebte sprachliche Homogenität nicht in Frage, sagt Späti. Im Umgang mit den Landessprachen wie den Migrationssprachen gilt: Wer von Priština oder Zürich nach Genf zieht, muss sich sprachlich anpassen. Doch im Gegensatz zu den einheimischen Minderheitensprachen sind die Migrationssprachen im Sprachenrecht kaum geschützt. Auch im demnächst in Kraft tretenden neuen Sprachengesetz sind die Rechte von Personen, die keine Amtssprachen sprechen, nur am Rande erwähnt. Laut den Forschenden sollten solche Rechte, etwa auf Förderung der Erstsprache oder auf Übersetzungsdienste, stärker in die offizielle Sprachenpolitik einbezogen werden: Die Schweiz sei heute ein Migrationsland.
Der Schlussbericht «Sprache und Identitätspolitik» kann heruntergeladen werden unter: "Zu diesem Thema"
Nationales Forschungsprogramm «Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz» (NFP 56)
Die traditionelle Viersprachigkeit der Schweiz ist längst zur Vielsprachigkeit geworden. Dies wirft für Schule und Gesellschaft Probleme auf. Andererseits aber eröffnet das sprachliche Kapital der Schweiz grosse Chancen, da die internationalen Verflechtungen Sprachenkenntnisse nötiger denn je machen. Die Vielfalt der Sprachen stellt heute neue Fragen an Schule, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und auch an jedes einzelne Individuum. Das vom Bundesrat in Auftrag gegebene NFP 56 erforscht und entwickelt seit 2006 die Grundlagen zur Erhaltung, Förderung und Nutzung der Sprachenvielfalt in der Schweiz.
Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) fördert im Auftrag des Bundes die Forschung in allen wissenschaftlichen Disziplinen, von Geschichte über Medizin bis zu den Ingenieurwissenschaften
Um die nötige Unabhängigkeit sicherzustellen, wurde der SNF 1952 als privatrechtliche Stiftung gegründet. Im Zentrum seiner Tätigkeit steht die Evaluation von Forschungsgesuchen. Mit der kompetitiven Vergabe öffentlicher Gelder trägt der SNF zur hohen Qualität der Schweizer Forschung bei.
In enger Zusammenarbeit mit Hochschulen und weiteren Partnern setzt sich der SNF dafür ein, dass sich die Forschung unter besten Bedingungen entwickeln und international vernetzen kann. Besondere Aufmerksamkeit schenkt der SNF dabei der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.
Zudem übernimmt er im Rahmen von Evaluationsmandaten die wissenschaftliche Qualitätskontrolle von grossen Schweizer Forschungsinitiativen, die er nicht selbst finanziert.
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